Aiden
DARK BROTHERS
Kapitel 1
Geldnot machte erfinderisch. Und sehr verzweifelt. Aus diesem Grund arbeitete ich seit zwei Wochen in diesem heruntergekommenen, verqualmten, schmuddeligen Stripclub, in dem so wenig Sauerstoff vorhanden war, dass ich schon nach fünf Minuten Atemnot bekam. Für eine ordentliche Durchlüftungsanlage war man wohl zu geizig oder man konnte sie sich nicht leisten. Fakt war jedenfalls, dass ich fast jeden Abend mit Kopfschmerzen nach Hause kam und mir daher dringend einen anderen Job suchen musste.
Mein Geld verdiente ich hier nicht etwa mit Strippen oder Kellnern, sondern indem ich halbnackt in einem riesigen Käfig auf einer unbequemen Stange schaukelte und mich dabei von lüsternen, betrunkenen Männern anstarren ließ, deren Blicke so vernebelt waren wie die Atmosphäre im Raum. Von den Peanuts, die mir dieser sogenannte Job einbrachte, musste ich meinen Lebensunterhalt bestreiten. Darunter fielen Lebensmittelkosten, Klamotten, Hygieneartikel, Fahrkarten, Strom und natürlich die Miete. Schon an meinem Probetag hatte festgestanden, dass dies keine dauerhafte Lösung für mich sein würde, aber als mittellose Schauspielerin durfte man nicht wählerisch sein. Schon gar nicht, wenn man keine Verwandten in der Stadt hatte, die man um Finanzspritzen oder Obdach bitten konnte.
Aber ich war selbst schuld.
Ich hatte mich immerhin freiwillig dazu entschieden, für eine vielversprechende Rolle nach Chicago zu ziehen. Hätte ich geahnt, dass die Sitcom schon nach sechs Monaten wieder abgesetzt werden würde, hätte ich mein Erspartes in etwas anderes als in den Umzug und in die teure Wohnung gesteckt. Aber hinterher war man ja immer schlauer. Jetzt war ich eine von vielen rollenlosen Darstellern, die sich tagsüber von einem Casting zum nächsten hangelten und abends alle möglichen Jobs verrichteten, um sich so lange über Wasser zu halten, bis sie hoffentlich die eine Filmrolle ergatterten, die sie berühmt machen würde. Zu meinem Pech schien die Filmindustrie wohl derzeit keine Verwendung für mittelgroße, dunkelblonde Frauen Ende zwanzig zu haben – dabei hatte ich mein Schauspielstudium mit Bestnote abgeschlossen.
Eisige Kälte kroch unter meinen Mantel, als ich den Club nach Feierabend verließ. In den ersten Tagen hatte ich mir noch die Mühe gemacht, Wechselsachen zur Arbeit mitzunehmen, aber die Luft im Club war so stickig, dass ich dort keine Sekunde länger als nötig verweilen wollte. So trug ich unter dem knöchellangen, geschlossenen Mantel lediglich Reizwäsche mit Strapsen. Doch die kalten Temperaturen störten mich nicht. Im Gegenteil, sie machten mich wieder klar und wach im Kopf.
Ich drehte mein langes Haar zu einem Knoten, damit die kühle Luft auch an meinen verschwitzten Nacken herankam, dann angelte ich mein Handy aus der Handtasche und öffnete Google Maps. Der schäbige Stripclub war gleich mehrfach in Chicago vertreten, und man hatte mich heute in einen anderen Stadtteil geschickt – quasi als Aushilfskraft. Eine Arbeitskollegin war so freundlich gewesen, mich mit dem Auto hierherzufahren – ich war also nicht mit den Öffentlichen hergekommen. Da ich mich in diesem Viertel nicht auskannte und mein Orientierungssinn nicht nur unterentwickelt, sondern schlichtweg nicht vorhanden war, musste ich nun meinen Routenplaner zurate ziehen, der mir hoffentlich den schnellsten Weg zur U-Bahn zeigen würde.
Nicht, dass ich große Lust hatte, in meine Bruchbude zurückzukehren.
Nachdem die Sitcom abgesetzt worden war, hatte ich meine geräumige Wohnung aufgeben und in eine kleinere mit einer winzigen Küchenzeile und einer nicht funktionierenden Heizung ziehen müssen. Glücklicherweise war die Miete so gering, dass genügend Geld für warme Decken und Daunenbettwäsche übrig blieb, sonst wäre ich längst im Schlaf erfroren.
Meine Gedanken fanden ein Ende, als sich eine dunkle Gasse vor mir auftat. Stirnrunzelnd blieb ich stehen und blickte von meinem Handy in den gruseligen Durchgang. Da sollte ich durchgehen? Jenseits der Passage erkannte ich den schwach beleuchteten Innenhof eines Bürogebäudes und dahinter eine weitere Gasse, die zur Hauptstraße führte. Eine Abkürzung, die mir viel Zeit ersparen würde, aber sehr vertrauenerweckend sah mir dieser Pfad nicht aus.
Unschlüssig trat ich von einem Fuß auf den anderen.
Wir hatten es zwei Uhr nachts und die Gegend war menschenleer. Eine gruselige Gasse war wahrlich nicht der sicherste Weg für eine Frau ohne Begleitung. Aber ich hatte auch keine Lust, auf Stöckelschuhen um den Bürokomplex zu laufen, der, laut Navi, gigantisch war. Vom vielen Räkeln und Verbiegen war ich körperlich so am Ende, dass allein der Gedanke, mehr Schritte als nötig zu laufen, ausreichte, um meine Füße anschwellen zu lassen. Eine sich nähernde Gruppe grölender Männer nahm mir die Entscheidung ab. Ich hatte heute schon genug mit Betrunkenen zu tun gehabt und konnte keine weiteren anzüglichen Blicke oder Bemerkungen mehr ertragen.
Daher eilte ich in die Gasse, bevor sie mich entdeckten.
Das Handy steckte ich in meinen Mantel, denn ich wollte im Dunkeln kein leuchtendes Ziel abgeben, dann setzte ich einen Schritt vor den anderen. Der Durchgang war breit und im Zentrum so tiefschwarz, dass ich ein paar Herzschläge lang nicht mal mehr die Hand vor Augen sah. Angst hatte ich trotzdem keine, denn für den Fall, dass ich überfallen werden sollte, hatte ich eine kleine Überraschung namens Pfefferspray in der Manteltasche. Meine Schauspielkollegin Emma hatte mir dazu geraten, nachdem ich ihr erzählt hatte, dass ich mich derzeit mit Nachtschichten über Wasser hielt. Sie hatte in der Krankenhaus-Sitcom meine Oberärztin gespielt und kurz nach deren Absetzung eine neue Rolle ergattert.
Die Glückliche.
Das Klackern meiner Absätze hallte laut an den nackten Steinwänden wider. Kurz blieb ich stehen und lauschte auf die Gruppe Männer, die hinter mir an der Gasse vorbeizog, doch sie nahmen keinerlei Notiz von mir und verschwanden wieder aus meinem Sichtfeld. Erleichtert setzte ich meinen Weg fort und ließ gerade den dunklen Teil der Gasse hinter mir, als Stimmen vom Innenhof zu mir herüberwehten. Eine tief und unheilvoll, die andere hoch und ängstlich. Wieder blieb ich stehen und war froh, dass der schwarze Mantel mich mit meiner dunklen Umgebung verschmelzen ließ.
„Ich schwöre dir, Seven, ich habe euch nicht verraten!“, beteuerte jemand ängstlich. Seven? Was war das denn für ein Name?
„Seltsam“, antwortete die andere Stimme. „Denn du warst der Einzige, der wusste, dass wir heute Nacht hier sein würden. Was soll ich jetzt mit dir machen, Richard, hm?“
„Bitte! Ich … ich bin kein Spitzel!“
Ein kaltes Kribbeln kroch meinen Nacken hinauf. Mir gefiel nicht, was ich da hörte. Es klang, als würde dieser Richard um sein Leben betteln. Mein Puls stieg an, und ich schlich näher, um besser sehen zu können. Da der Innenhof nur schwach beleuchtet war und um diese Uhrzeit nirgends im Gebäude mehr Licht brannte, erkannte ich zunächst nur Silhouetten. Das änderte sich jedoch, als ich mich den beiden näherte. Was ich sah, ließ mich entsetzt innehalten. Ein Mann kniete auf dem Boden. Sein Gesicht war blutüberströmt, als hätte man ihn mehrmals und brutal geschlagen. Seitlich lief es an seinem Kopf hinunter und tropfte auf seine Jacke und auf den Boden. Aber das war nicht das Schlimmste an der Szene. Nein, es war der Schwarzhaarige, der vor ihm stand und eine Waffe auf seine Stirn richtete. Hoch und gefährlich ragte er über dem Knieenden auf. So dunkel gekleidet, als hätte ihn die Finsternis persönlich ausgespuckt.
Ich hatte genug gesehen und wirbelte auf dem Absatz herum, um mich erst in Sicherheit zu bringen und dann die Polizei zu rufen. Zumindest war das mein Plan gewesen. Etwas Kühles an meiner Schläfe ließ mich erstarren, noch bevor ich mich ganz umdrehen konnte.
„Willst du etwa schon gehen?“
Die Stimme schnitt wie eine scharfe Klinge durch die Finsternis und erregte die Aufmerksamkeit der Männer vor mir. Kurz dachte ich, einer der Betrunkenen hätte mich gesehen und wäre mir in die Gasse gefolgt, aber dann fragte der Mann namens Seven mit Blick in meine Richtung: „Wen hast du da aufgegabelt, Joker?“
„Werden wir gleich herausfinden. Los, vorwärts“, wies mein Hintermann mich an und untermauerte seinen Befehl, indem er die Waffe fester an meinen Schädel presste.
Alles in mir erstarrte, nur meine Beine nicht. Die bewegten sich wie ferngesteuert in die Richtung, die man mir vorgab. Meine Gedanken überschlugen sich. Wo war ich hier hineingeraten? Was waren das für komische Namen, mit denen sie sich ansprachen? Warum hatte ich diesen Joker nicht gehört und wo kam er so plötzlich her? Meine eigenen Schritte dröhnten mir in den Ohren, während von meinem Hintermann kein Mucks kam. Er bewegte sich so leise, als wäre er ein Geist. Hätte das kühle Metall nicht an meiner Schläfe gelegen, hätte ich gesagt, ich bildete mir seine Gegenwart nur ein. Leider war das Gefühl seiner Waffe nicht nur beängstigend, sondern auch sehr real.
Eine flackernde Laterne erhellte den Hinterhof gerade genug, dass ich das Gesicht des Knieenden erkennen konnte. Er war blond, mittleren Alters und starrte mich hilfesuchend und blutüberströmt an. Von dem Bewaffneten sah ich nur das Profil, wobei ein Teil seines Gesichts im Schatten lag.
„Bitte. Ich … ich will keinen Ärger“, stammelte ich und senkte aus einer Eingebung heraus den Kopf.
„Dafür ist es zu spät“, raunte der Mann namens Joker mir ins Ohr. Panik fraß sich wie ätzende Säure durch meine Gedanken. Ich war tot! Ich war ja so was von tot!
„Wer bist du?“, fragte der Schwarzhaarige mich. „Gehörst du zu ihm? Hey, sieh mich gefälligst an!“
Ängstlich und mit gesenktem Blick schüttelte ich den Kopf. „Ich kenne ihn nicht. Und dich auch nicht. Ich … ich habe dein Gesicht nicht gesehen, also lass mich bitte gehen. Ich sage auch niemandem, was ich hier gesehen habe.“
„Ist ja niedlich, aber du hast meine Frage nicht beantwortet.“ So kalt und schneidend wie die Stimme meines Hintermanns war, so volltönend war die meines Gegenübers. Sie sorgte dafür, dass sich meine Nackenhaare aufstellten, gleichzeitig kam sie mir seltsam vertraut war. Allerdings hätte ich mich daran erinnert, wenn ich einen Verbrecher kennen würde. Und nichts anderes schien er zu sein.
Dass er seinen Befehl, ihn anzusehen, nicht wiederholte, gab mir Hoffnung, lebend aus dieser Sache herauszukommen. Daher kratzte ich all meinen Mut zusammen und sagte: „Ich bin niemand, und ich will keinen Ärger haben!“
„Sie lügt!“, rief der Blonde plötzlich. „Sie ist eine Spionin. Das ist Penelope!“
„Bitte was?“ Entgeistert hob ich den Blick und starrte den blutverschmierten Mann an. Hatten sie ihn etwa dermaßen in die Mangel genommen, dass er schon halluzinierte? „Ich kenne keine Penelope! Ich arbeite im Red Roof und bin ganz sicher keine Spionin!“ Dass ich besser mal die Klappe gehalten hätte, begriff ich erst, als der Schwarzhaarige sich mir ruckartig zuwandte. Noch immer sah ich ihm nicht ins Gesicht, aber seine Waffe war nicht länger auf den Blonden gerichtet, sondern auf mich.
„Seht ihr?“, rief der Blonde aufgekratzt. „Sie arbeitet im Red Roof. Eindeutig eine Spionin!“
„Nein! Ich bin keine …“ Ein Schlag auf meinen Hinterkopf ließ mich keuchen. Tränen stiegen mir in die Augen, und ich wollte mir an die pochende Stelle fassen, da packte der Mann namens Seven mich am Kragen und zog mich unter die einzige Lichtquelle in der Gasse. Nach Atem ringend stolperte ich hinter ihm her, unfähig, mich aus seinem erbarmungslosen Griff zu befreien. Grob packte er mein Kinn, dann zwang er meinen Kopf in die Höhe.
„Du bist also Penelope. Schön, nach so langer Zeit endlich deine …“ Er stockte, und seine Augen weiteten sich, als er mein Gesicht im Schein der Laterne betrachtete. „Was zum …?! Luna?“ Ich starrte in dunkel schimmernde Augen und konnte nicht begreifen, was ich sah. Diese Augen hätte ich überall wiedererkannt. Genauso wie die schmerzhaft schönen Gesichtszüge, die jetzt wesentlich kantiger und erwachsener waren als damals.
Aiden!
Der Mann vor mir, der sich Seven nannte, war mein ehemaliger Klassenkamerad!
Fluchend ließ er mich los, als hätte er sich an mir verbrannt, und ich prallte gegen meinen Hintermann, der mich im Nacken packte und so am Weglaufen hinderte. Nicht, dass meine Beine mich in diesem Moment irgendwo hätten hintragen können. Ich war viel zu benommen vor Überraschung.
„Das ist nicht Penelope, du Scheißkerl!“, knurrte Aiden und richtete seine Waffe wieder auf den Blonden. An Joker gewandt fragte er: „Warum hast du sie in die Gasse gelassen?“
Mich gelassen? Hätte ich nicht zu viel Angst gehabt, dass er mir das Hirn wegpusten würde, hätte ich mich zu dem Angesprochen umgedreht. So lauschte ich nur mit hämmerndem Puls und noch immer geschockt seinen Worten.
„Ich war neugierig, was sie vorhat. Woher sollte ich wissen, dass du sie kennst?“
Das hieß also, dass er sich im Schatten der Gasse versteckt und mich von Anfang an kommen gesehen hatte. Fassungslos starrte ich meinen alten Schulkameraden an, von dem ich so viele Jahre nichts gehört hatte. Aiden hatte das College damals aus heiterem Himmel abgebrochen und war dann wie vom Erdboden verschwunden. Ohne Abschied, ohne Erklärung. Niemand hatte gewusst, was mit ihm passiert war. Niemand hätte geahnt, dass er zehn Jahre später als Verbrecher vor mir stehen würde.
Ich war noch dabei, unser unerwartetes Wiedersehen zu verarbeiten, als Schüsse die nächtliche Ruhe zerrissen. Der Mann namens Joker stieß mich zu Boden, und das gerade rechtzeitig, denn noch im Fall spürte ich Kugeln über mich hinwegfliegen. Schmerzhaft landete ich auf allen vieren, die Handtasche entglitt meiner Schulter, während die Männer um mich herum in Deckung sprangen. Ich spürte den Aufprall bis in die Knochen, doch schon im nächsten Moment packte mich jemand am Arm und schleifte mich so mühelos hinter sich her, als wöge ich nicht mehr als eine Puppe. Perplex stolperte ich hinter der Person her. Ein flüchtiger Blick nach oben verriet mir, dass es sich dabei nicht um Aiden handelte, sondern um einen muskelbepackten Mann mit kurzgeschorenen Haaren und grimmigem Blick.
„Lasst sie nicht in die Gasse!“, rief er über den Lärm hinweg, wobei seine Stimme mehr ein Knurren war. Irritiert musste ich feststellen, dass es nicht Jokers Stimme war. Was mich zu der Frage brachte, wie viele von Aidens Leuten sich hier noch im Dunkeln versteckten. An der Häuserfassade ließ er mich wieder los, und ich kauerte mich vor die Wand. Dann kehrte er mir den Rücken zu und feuerte in die dunkle Gasse hinein, um wen-auch-immer davon abzuhalten, den Innenhof zu betreten.
Ich konnte nicht begreifen, dass das hier wirklich geschah. Dass ich in eine Schießerei geraten war, wie man sie sonst nur aus Filmen kannte. In dem Versuch, den Lärm um mich herum auszublenden, presste ich mir die Hände auf die Ohren, doch es war vergebens. Das ist ein Albtraum!, dachte ich. Ein ganz übler Albtraum, aus dem ich jeden Moment aufwachen werde. Ganz bestimmt.
Doch der Albtraum endete nicht.
Stattdessen schlug neben meinem Gesicht eine Kugel ein und veranlasste den Hünen vor mir dazu, in Deckung zu springen. Jetzt stand nichts mehr zwischen mir und den wild um sich schießenden Männern. Kreischend rappelte ich mich auf, meine Tasche lag noch immer da, wo ich sie fallengelassen hatte, und kroch an der Mauer entlang auf den zweiten Durchgang zu. Sobald ich ihn erreicht hatte, würde ich um mein Leben rennen und mich kein einziges Mal umdrehen.
„Bleib hier!“, rief der bullige Typ mir nach.
Zumindest nahm ich an, dass er mich meinte. Sicher war ich mir bei dem Durcheinander aus bellenden Befehlen und Schmerzensschreien nicht. Aber ich hätte sowieso nicht auf ihn gehört und krabbelte weiter. Da trat jemand in mein Blickfeld, und ich riss erschrocken den Kopf hoch. Zuerst fiel mir das blutverschmierte Messer in seiner Hand auf, dann die Kapuze, die sein Gesicht bis zum Kinn verdeckte. Ohne etwas zu sagen, ja, ohne mich vorzuwarnen, schwang er die Klinge in meine Richtung und traf mich nur deshalb nicht, weil ich mich reflexartig nach hinten fallen ließ. Ich war so schockiert von seiner skrupellosen Absicht, mich zu töten, dass kein Ton aus meinem Mund kam, als ich hart auf den Ellenbogen landete. Sofort beugte er sich über mich, offenbar wild entschlossen, mich abzustechen. Da erinnerte ich mich an das Pfefferspray in meiner Manteltasche, fummelte es hervor und sprühte es ihm in letzter Sekunde ins Gesicht.
Brüllend vor Schmerzen fasste er sich an die Augen und brach in die Knie. Unglücklicherweise bekam ich auch etwas vom Reizgas ab und rollte mich hustend und würgend von dem Mann weg. Als ich wieder auf den Beinen war, blickte ich mich mit tränenverschleierten Augen um. Die feindlichen Schützen waren in den Innenhof gelangt. Wohin ich auch sah, schossen und brüllten wildfremde Männer, manche vermummt, andere halb in den Schatten verborgen. Meine Atemwege standen in Flammen und meinen Augen erging es nicht besser, aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Jetzt oder nie, dachte ich und wollte gerade losrennen, als der Messertyp mich packte und so brutal zurückriss, dass ich mit dem Kopf gegen die Wand krachte. Schwarze Punkte explodierten vor meinen Augen, und ich brach nur nicht zusammen, weil seine Hand um meinen Hals mich aufrechthielt.
„Du gehst nirgendwohin, Miststück!“, knurrte mein Angreifer mit zusammengekniffenen Augen und drückte zu. Ich hatte angenommen, dass das Pfefferspray ihn außer Gefecht setzen würde, aber es hatte ihn nur blind und nicht bewegungsunfähig gemacht. Für diesen Irrtum würde ich nun mit meinem Leben bezahlen. Mein Schädel stand in Flammen, gleichzeitig rückte der Schmerz in zunehmende Ferne, was vermutlich mit dem Sauerstoffmangel zusammenhing. Mir war klar, dass das kein gutes Zeichen war. Weder, dass die Schmerzen in meinem Kopf immer dumpfer wurden, noch, dass ich nicht die Kraft aufbringen konnte, mich aus dem Würgegriff des Mannes zu befreien.
Ich sah mein Ende schon kommen und den Kapuzenmann blind auf mich einstechen, als sich ganz in meiner Nähe ein Schuss löste. Ohne einen Laut kippte der Kapuzentyp zur Seite und schlug mit geweiteten, ungläubigen Augen auf dem Boden auf. Ich sollte erschüttert darüber sein. Dort zu meinen Füßen lag ein toter Mann! Doch der Umstand, dass ich wieder atmen konnte, interessierte mich in diesem Augenblick mehr. Gierig sog ich die kühle Nachtluft ein. Nur am Rande nahm ich dabei wahr, wie meine Beine wegknickten und ich mit dem Rücken die Wand hinunterrutschte. Auf einmal brauchte ich all meine Konzentration, um wach zu bleiben und nicht in die verlockende Dunkelheit hinabzugleiten, die mich zu sich rief.
Jemand hockte sich vor mich und betastete mit kundigen Fingern meine Stirn. Es war leiser um mich herum geworden. War der Kampf etwa vorbei oder war es mein eigenes Blutrauschen, das die anderen Geräusche übertönte?
„Hey, sieh mich an.“ Das war die Stimme des Muskelbergs. Blinzelnd versuchte ich, seiner Aufforderung nachzukommen, doch sein Gesicht verschwamm immer wieder vor meinen Augen. Ein Stöhnen kam über meine Lippen, und ich merkte, wie meine Lider flatterten. „Seven, deine Freundin sieht nicht gut aus!“, rief der Mann über seine Schulter. Was Aiden antwortete, bekam ich nicht mehr mit, denn mein Kopf sackte nach vorn, und mit ihm mein ganzer Körper.
„Nein, nein, nein! Bleib bei mir …“
Mein Geld verdiente ich hier nicht etwa mit Strippen oder Kellnern, sondern indem ich halbnackt in einem riesigen Käfig auf einer unbequemen Stange schaukelte und mich dabei von lüsternen, betrunkenen Männern anstarren ließ, deren Blicke so vernebelt waren wie die Atmosphäre im Raum. Von den Peanuts, die mir dieser sogenannte Job einbrachte, musste ich meinen Lebensunterhalt bestreiten. Darunter fielen Lebensmittelkosten, Klamotten, Hygieneartikel, Fahrkarten, Strom und natürlich die Miete. Schon an meinem Probetag hatte festgestanden, dass dies keine dauerhafte Lösung für mich sein würde, aber als mittellose Schauspielerin durfte man nicht wählerisch sein. Schon gar nicht, wenn man keine Verwandten in der Stadt hatte, die man um Finanzspritzen oder Obdach bitten konnte.
Aber ich war selbst schuld.
Ich hatte mich immerhin freiwillig dazu entschieden, für eine vielversprechende Rolle nach Chicago zu ziehen. Hätte ich geahnt, dass die Sitcom schon nach sechs Monaten wieder abgesetzt werden würde, hätte ich mein Erspartes in etwas anderes als in den Umzug und in die teure Wohnung gesteckt. Aber hinterher war man ja immer schlauer. Jetzt war ich eine von vielen rollenlosen Darstellern, die sich tagsüber von einem Casting zum nächsten hangelten und abends alle möglichen Jobs verrichteten, um sich so lange über Wasser zu halten, bis sie hoffentlich die eine Filmrolle ergatterten, die sie berühmt machen würde. Zu meinem Pech schien die Filmindustrie wohl derzeit keine Verwendung für mittelgroße, dunkelblonde Frauen Ende zwanzig zu haben – dabei hatte ich mein Schauspielstudium mit Bestnote abgeschlossen.
Eisige Kälte kroch unter meinen Mantel, als ich den Club nach Feierabend verließ. In den ersten Tagen hatte ich mir noch die Mühe gemacht, Wechselsachen zur Arbeit mitzunehmen, aber die Luft im Club war so stickig, dass ich dort keine Sekunde länger als nötig verweilen wollte. So trug ich unter dem knöchellangen, geschlossenen Mantel lediglich Reizwäsche mit Strapsen. Doch die kalten Temperaturen störten mich nicht. Im Gegenteil, sie machten mich wieder klar und wach im Kopf.
Ich drehte mein langes Haar zu einem Knoten, damit die kühle Luft auch an meinen verschwitzten Nacken herankam, dann angelte ich mein Handy aus der Handtasche und öffnete Google Maps. Der schäbige Stripclub war gleich mehrfach in Chicago vertreten, und man hatte mich heute in einen anderen Stadtteil geschickt – quasi als Aushilfskraft. Eine Arbeitskollegin war so freundlich gewesen, mich mit dem Auto hierherzufahren – ich war also nicht mit den Öffentlichen hergekommen. Da ich mich in diesem Viertel nicht auskannte und mein Orientierungssinn nicht nur unterentwickelt, sondern schlichtweg nicht vorhanden war, musste ich nun meinen Routenplaner zurate ziehen, der mir hoffentlich den schnellsten Weg zur U-Bahn zeigen würde.
Nicht, dass ich große Lust hatte, in meine Bruchbude zurückzukehren.
Nachdem die Sitcom abgesetzt worden war, hatte ich meine geräumige Wohnung aufgeben und in eine kleinere mit einer winzigen Küchenzeile und einer nicht funktionierenden Heizung ziehen müssen. Glücklicherweise war die Miete so gering, dass genügend Geld für warme Decken und Daunenbettwäsche übrig blieb, sonst wäre ich längst im Schlaf erfroren.
Meine Gedanken fanden ein Ende, als sich eine dunkle Gasse vor mir auftat. Stirnrunzelnd blieb ich stehen und blickte von meinem Handy in den gruseligen Durchgang. Da sollte ich durchgehen? Jenseits der Passage erkannte ich den schwach beleuchteten Innenhof eines Bürogebäudes und dahinter eine weitere Gasse, die zur Hauptstraße führte. Eine Abkürzung, die mir viel Zeit ersparen würde, aber sehr vertrauenerweckend sah mir dieser Pfad nicht aus.
Unschlüssig trat ich von einem Fuß auf den anderen.
Wir hatten es zwei Uhr nachts und die Gegend war menschenleer. Eine gruselige Gasse war wahrlich nicht der sicherste Weg für eine Frau ohne Begleitung. Aber ich hatte auch keine Lust, auf Stöckelschuhen um den Bürokomplex zu laufen, der, laut Navi, gigantisch war. Vom vielen Räkeln und Verbiegen war ich körperlich so am Ende, dass allein der Gedanke, mehr Schritte als nötig zu laufen, ausreichte, um meine Füße anschwellen zu lassen. Eine sich nähernde Gruppe grölender Männer nahm mir die Entscheidung ab. Ich hatte heute schon genug mit Betrunkenen zu tun gehabt und konnte keine weiteren anzüglichen Blicke oder Bemerkungen mehr ertragen.
Daher eilte ich in die Gasse, bevor sie mich entdeckten.
Das Handy steckte ich in meinen Mantel, denn ich wollte im Dunkeln kein leuchtendes Ziel abgeben, dann setzte ich einen Schritt vor den anderen. Der Durchgang war breit und im Zentrum so tiefschwarz, dass ich ein paar Herzschläge lang nicht mal mehr die Hand vor Augen sah. Angst hatte ich trotzdem keine, denn für den Fall, dass ich überfallen werden sollte, hatte ich eine kleine Überraschung namens Pfefferspray in der Manteltasche. Meine Schauspielkollegin Emma hatte mir dazu geraten, nachdem ich ihr erzählt hatte, dass ich mich derzeit mit Nachtschichten über Wasser hielt. Sie hatte in der Krankenhaus-Sitcom meine Oberärztin gespielt und kurz nach deren Absetzung eine neue Rolle ergattert.
Die Glückliche.
Das Klackern meiner Absätze hallte laut an den nackten Steinwänden wider. Kurz blieb ich stehen und lauschte auf die Gruppe Männer, die hinter mir an der Gasse vorbeizog, doch sie nahmen keinerlei Notiz von mir und verschwanden wieder aus meinem Sichtfeld. Erleichtert setzte ich meinen Weg fort und ließ gerade den dunklen Teil der Gasse hinter mir, als Stimmen vom Innenhof zu mir herüberwehten. Eine tief und unheilvoll, die andere hoch und ängstlich. Wieder blieb ich stehen und war froh, dass der schwarze Mantel mich mit meiner dunklen Umgebung verschmelzen ließ.
„Ich schwöre dir, Seven, ich habe euch nicht verraten!“, beteuerte jemand ängstlich. Seven? Was war das denn für ein Name?
„Seltsam“, antwortete die andere Stimme. „Denn du warst der Einzige, der wusste, dass wir heute Nacht hier sein würden. Was soll ich jetzt mit dir machen, Richard, hm?“
„Bitte! Ich … ich bin kein Spitzel!“
Ein kaltes Kribbeln kroch meinen Nacken hinauf. Mir gefiel nicht, was ich da hörte. Es klang, als würde dieser Richard um sein Leben betteln. Mein Puls stieg an, und ich schlich näher, um besser sehen zu können. Da der Innenhof nur schwach beleuchtet war und um diese Uhrzeit nirgends im Gebäude mehr Licht brannte, erkannte ich zunächst nur Silhouetten. Das änderte sich jedoch, als ich mich den beiden näherte. Was ich sah, ließ mich entsetzt innehalten. Ein Mann kniete auf dem Boden. Sein Gesicht war blutüberströmt, als hätte man ihn mehrmals und brutal geschlagen. Seitlich lief es an seinem Kopf hinunter und tropfte auf seine Jacke und auf den Boden. Aber das war nicht das Schlimmste an der Szene. Nein, es war der Schwarzhaarige, der vor ihm stand und eine Waffe auf seine Stirn richtete. Hoch und gefährlich ragte er über dem Knieenden auf. So dunkel gekleidet, als hätte ihn die Finsternis persönlich ausgespuckt.
Ich hatte genug gesehen und wirbelte auf dem Absatz herum, um mich erst in Sicherheit zu bringen und dann die Polizei zu rufen. Zumindest war das mein Plan gewesen. Etwas Kühles an meiner Schläfe ließ mich erstarren, noch bevor ich mich ganz umdrehen konnte.
„Willst du etwa schon gehen?“
Die Stimme schnitt wie eine scharfe Klinge durch die Finsternis und erregte die Aufmerksamkeit der Männer vor mir. Kurz dachte ich, einer der Betrunkenen hätte mich gesehen und wäre mir in die Gasse gefolgt, aber dann fragte der Mann namens Seven mit Blick in meine Richtung: „Wen hast du da aufgegabelt, Joker?“
„Werden wir gleich herausfinden. Los, vorwärts“, wies mein Hintermann mich an und untermauerte seinen Befehl, indem er die Waffe fester an meinen Schädel presste.
Alles in mir erstarrte, nur meine Beine nicht. Die bewegten sich wie ferngesteuert in die Richtung, die man mir vorgab. Meine Gedanken überschlugen sich. Wo war ich hier hineingeraten? Was waren das für komische Namen, mit denen sie sich ansprachen? Warum hatte ich diesen Joker nicht gehört und wo kam er so plötzlich her? Meine eigenen Schritte dröhnten mir in den Ohren, während von meinem Hintermann kein Mucks kam. Er bewegte sich so leise, als wäre er ein Geist. Hätte das kühle Metall nicht an meiner Schläfe gelegen, hätte ich gesagt, ich bildete mir seine Gegenwart nur ein. Leider war das Gefühl seiner Waffe nicht nur beängstigend, sondern auch sehr real.
Eine flackernde Laterne erhellte den Hinterhof gerade genug, dass ich das Gesicht des Knieenden erkennen konnte. Er war blond, mittleren Alters und starrte mich hilfesuchend und blutüberströmt an. Von dem Bewaffneten sah ich nur das Profil, wobei ein Teil seines Gesichts im Schatten lag.
„Bitte. Ich … ich will keinen Ärger“, stammelte ich und senkte aus einer Eingebung heraus den Kopf.
„Dafür ist es zu spät“, raunte der Mann namens Joker mir ins Ohr. Panik fraß sich wie ätzende Säure durch meine Gedanken. Ich war tot! Ich war ja so was von tot!
„Wer bist du?“, fragte der Schwarzhaarige mich. „Gehörst du zu ihm? Hey, sieh mich gefälligst an!“
Ängstlich und mit gesenktem Blick schüttelte ich den Kopf. „Ich kenne ihn nicht. Und dich auch nicht. Ich … ich habe dein Gesicht nicht gesehen, also lass mich bitte gehen. Ich sage auch niemandem, was ich hier gesehen habe.“
„Ist ja niedlich, aber du hast meine Frage nicht beantwortet.“ So kalt und schneidend wie die Stimme meines Hintermanns war, so volltönend war die meines Gegenübers. Sie sorgte dafür, dass sich meine Nackenhaare aufstellten, gleichzeitig kam sie mir seltsam vertraut war. Allerdings hätte ich mich daran erinnert, wenn ich einen Verbrecher kennen würde. Und nichts anderes schien er zu sein.
Dass er seinen Befehl, ihn anzusehen, nicht wiederholte, gab mir Hoffnung, lebend aus dieser Sache herauszukommen. Daher kratzte ich all meinen Mut zusammen und sagte: „Ich bin niemand, und ich will keinen Ärger haben!“
„Sie lügt!“, rief der Blonde plötzlich. „Sie ist eine Spionin. Das ist Penelope!“
„Bitte was?“ Entgeistert hob ich den Blick und starrte den blutverschmierten Mann an. Hatten sie ihn etwa dermaßen in die Mangel genommen, dass er schon halluzinierte? „Ich kenne keine Penelope! Ich arbeite im Red Roof und bin ganz sicher keine Spionin!“ Dass ich besser mal die Klappe gehalten hätte, begriff ich erst, als der Schwarzhaarige sich mir ruckartig zuwandte. Noch immer sah ich ihm nicht ins Gesicht, aber seine Waffe war nicht länger auf den Blonden gerichtet, sondern auf mich.
„Seht ihr?“, rief der Blonde aufgekratzt. „Sie arbeitet im Red Roof. Eindeutig eine Spionin!“
„Nein! Ich bin keine …“ Ein Schlag auf meinen Hinterkopf ließ mich keuchen. Tränen stiegen mir in die Augen, und ich wollte mir an die pochende Stelle fassen, da packte der Mann namens Seven mich am Kragen und zog mich unter die einzige Lichtquelle in der Gasse. Nach Atem ringend stolperte ich hinter ihm her, unfähig, mich aus seinem erbarmungslosen Griff zu befreien. Grob packte er mein Kinn, dann zwang er meinen Kopf in die Höhe.
„Du bist also Penelope. Schön, nach so langer Zeit endlich deine …“ Er stockte, und seine Augen weiteten sich, als er mein Gesicht im Schein der Laterne betrachtete. „Was zum …?! Luna?“ Ich starrte in dunkel schimmernde Augen und konnte nicht begreifen, was ich sah. Diese Augen hätte ich überall wiedererkannt. Genauso wie die schmerzhaft schönen Gesichtszüge, die jetzt wesentlich kantiger und erwachsener waren als damals.
Aiden!
Der Mann vor mir, der sich Seven nannte, war mein ehemaliger Klassenkamerad!
Fluchend ließ er mich los, als hätte er sich an mir verbrannt, und ich prallte gegen meinen Hintermann, der mich im Nacken packte und so am Weglaufen hinderte. Nicht, dass meine Beine mich in diesem Moment irgendwo hätten hintragen können. Ich war viel zu benommen vor Überraschung.
„Das ist nicht Penelope, du Scheißkerl!“, knurrte Aiden und richtete seine Waffe wieder auf den Blonden. An Joker gewandt fragte er: „Warum hast du sie in die Gasse gelassen?“
Mich gelassen? Hätte ich nicht zu viel Angst gehabt, dass er mir das Hirn wegpusten würde, hätte ich mich zu dem Angesprochen umgedreht. So lauschte ich nur mit hämmerndem Puls und noch immer geschockt seinen Worten.
„Ich war neugierig, was sie vorhat. Woher sollte ich wissen, dass du sie kennst?“
Das hieß also, dass er sich im Schatten der Gasse versteckt und mich von Anfang an kommen gesehen hatte. Fassungslos starrte ich meinen alten Schulkameraden an, von dem ich so viele Jahre nichts gehört hatte. Aiden hatte das College damals aus heiterem Himmel abgebrochen und war dann wie vom Erdboden verschwunden. Ohne Abschied, ohne Erklärung. Niemand hatte gewusst, was mit ihm passiert war. Niemand hätte geahnt, dass er zehn Jahre später als Verbrecher vor mir stehen würde.
Ich war noch dabei, unser unerwartetes Wiedersehen zu verarbeiten, als Schüsse die nächtliche Ruhe zerrissen. Der Mann namens Joker stieß mich zu Boden, und das gerade rechtzeitig, denn noch im Fall spürte ich Kugeln über mich hinwegfliegen. Schmerzhaft landete ich auf allen vieren, die Handtasche entglitt meiner Schulter, während die Männer um mich herum in Deckung sprangen. Ich spürte den Aufprall bis in die Knochen, doch schon im nächsten Moment packte mich jemand am Arm und schleifte mich so mühelos hinter sich her, als wöge ich nicht mehr als eine Puppe. Perplex stolperte ich hinter der Person her. Ein flüchtiger Blick nach oben verriet mir, dass es sich dabei nicht um Aiden handelte, sondern um einen muskelbepackten Mann mit kurzgeschorenen Haaren und grimmigem Blick.
„Lasst sie nicht in die Gasse!“, rief er über den Lärm hinweg, wobei seine Stimme mehr ein Knurren war. Irritiert musste ich feststellen, dass es nicht Jokers Stimme war. Was mich zu der Frage brachte, wie viele von Aidens Leuten sich hier noch im Dunkeln versteckten. An der Häuserfassade ließ er mich wieder los, und ich kauerte mich vor die Wand. Dann kehrte er mir den Rücken zu und feuerte in die dunkle Gasse hinein, um wen-auch-immer davon abzuhalten, den Innenhof zu betreten.
Ich konnte nicht begreifen, dass das hier wirklich geschah. Dass ich in eine Schießerei geraten war, wie man sie sonst nur aus Filmen kannte. In dem Versuch, den Lärm um mich herum auszublenden, presste ich mir die Hände auf die Ohren, doch es war vergebens. Das ist ein Albtraum!, dachte ich. Ein ganz übler Albtraum, aus dem ich jeden Moment aufwachen werde. Ganz bestimmt.
Doch der Albtraum endete nicht.
Stattdessen schlug neben meinem Gesicht eine Kugel ein und veranlasste den Hünen vor mir dazu, in Deckung zu springen. Jetzt stand nichts mehr zwischen mir und den wild um sich schießenden Männern. Kreischend rappelte ich mich auf, meine Tasche lag noch immer da, wo ich sie fallengelassen hatte, und kroch an der Mauer entlang auf den zweiten Durchgang zu. Sobald ich ihn erreicht hatte, würde ich um mein Leben rennen und mich kein einziges Mal umdrehen.
„Bleib hier!“, rief der bullige Typ mir nach.
Zumindest nahm ich an, dass er mich meinte. Sicher war ich mir bei dem Durcheinander aus bellenden Befehlen und Schmerzensschreien nicht. Aber ich hätte sowieso nicht auf ihn gehört und krabbelte weiter. Da trat jemand in mein Blickfeld, und ich riss erschrocken den Kopf hoch. Zuerst fiel mir das blutverschmierte Messer in seiner Hand auf, dann die Kapuze, die sein Gesicht bis zum Kinn verdeckte. Ohne etwas zu sagen, ja, ohne mich vorzuwarnen, schwang er die Klinge in meine Richtung und traf mich nur deshalb nicht, weil ich mich reflexartig nach hinten fallen ließ. Ich war so schockiert von seiner skrupellosen Absicht, mich zu töten, dass kein Ton aus meinem Mund kam, als ich hart auf den Ellenbogen landete. Sofort beugte er sich über mich, offenbar wild entschlossen, mich abzustechen. Da erinnerte ich mich an das Pfefferspray in meiner Manteltasche, fummelte es hervor und sprühte es ihm in letzter Sekunde ins Gesicht.
Brüllend vor Schmerzen fasste er sich an die Augen und brach in die Knie. Unglücklicherweise bekam ich auch etwas vom Reizgas ab und rollte mich hustend und würgend von dem Mann weg. Als ich wieder auf den Beinen war, blickte ich mich mit tränenverschleierten Augen um. Die feindlichen Schützen waren in den Innenhof gelangt. Wohin ich auch sah, schossen und brüllten wildfremde Männer, manche vermummt, andere halb in den Schatten verborgen. Meine Atemwege standen in Flammen und meinen Augen erging es nicht besser, aber darauf konnte ich jetzt keine Rücksicht nehmen. Jetzt oder nie, dachte ich und wollte gerade losrennen, als der Messertyp mich packte und so brutal zurückriss, dass ich mit dem Kopf gegen die Wand krachte. Schwarze Punkte explodierten vor meinen Augen, und ich brach nur nicht zusammen, weil seine Hand um meinen Hals mich aufrechthielt.
„Du gehst nirgendwohin, Miststück!“, knurrte mein Angreifer mit zusammengekniffenen Augen und drückte zu. Ich hatte angenommen, dass das Pfefferspray ihn außer Gefecht setzen würde, aber es hatte ihn nur blind und nicht bewegungsunfähig gemacht. Für diesen Irrtum würde ich nun mit meinem Leben bezahlen. Mein Schädel stand in Flammen, gleichzeitig rückte der Schmerz in zunehmende Ferne, was vermutlich mit dem Sauerstoffmangel zusammenhing. Mir war klar, dass das kein gutes Zeichen war. Weder, dass die Schmerzen in meinem Kopf immer dumpfer wurden, noch, dass ich nicht die Kraft aufbringen konnte, mich aus dem Würgegriff des Mannes zu befreien.
Ich sah mein Ende schon kommen und den Kapuzenmann blind auf mich einstechen, als sich ganz in meiner Nähe ein Schuss löste. Ohne einen Laut kippte der Kapuzentyp zur Seite und schlug mit geweiteten, ungläubigen Augen auf dem Boden auf. Ich sollte erschüttert darüber sein. Dort zu meinen Füßen lag ein toter Mann! Doch der Umstand, dass ich wieder atmen konnte, interessierte mich in diesem Augenblick mehr. Gierig sog ich die kühle Nachtluft ein. Nur am Rande nahm ich dabei wahr, wie meine Beine wegknickten und ich mit dem Rücken die Wand hinunterrutschte. Auf einmal brauchte ich all meine Konzentration, um wach zu bleiben und nicht in die verlockende Dunkelheit hinabzugleiten, die mich zu sich rief.
Jemand hockte sich vor mich und betastete mit kundigen Fingern meine Stirn. Es war leiser um mich herum geworden. War der Kampf etwa vorbei oder war es mein eigenes Blutrauschen, das die anderen Geräusche übertönte?
„Hey, sieh mich an.“ Das war die Stimme des Muskelbergs. Blinzelnd versuchte ich, seiner Aufforderung nachzukommen, doch sein Gesicht verschwamm immer wieder vor meinen Augen. Ein Stöhnen kam über meine Lippen, und ich merkte, wie meine Lider flatterten. „Seven, deine Freundin sieht nicht gut aus!“, rief der Mann über seine Schulter. Was Aiden antwortete, bekam ich nicht mehr mit, denn mein Kopf sackte nach vorn, und mit ihm mein ganzer Körper.
„Nein, nein, nein! Bleib bei mir …“